Im letzten Jahrzehnt wurde eine deutliche Zunahme an Zulassungen onkologischer Therapeutika beobachtet, mit über 160 Registrierungen durch die Food and Drug Administration (FDA) in den USA im Bereich der soliden Onkologie im Zeitraum 2017–2021.1 Während dieser Trend und die Etablierung innovativer, oftmals zielgerichteter oder immuntherapeutischer Strategien als großer Erfolg für eine optimierte Patientenbetreuung gesehen werden kann, fällt bei genauerer Betrachtung der zugrunde liegenden Daten auf, dass ...
1. sich ein deutlicher Anstieg sogenannter „accelerated approvals“ (beschleunigte Zulassungsverfahren) mit damit einhergehender kürzerer Beobachtungsdauer zeigt,
2. zunehmend Zulassungen auch auf Basis von nicht randomisierten, einarmigen Studien erfolgen (versus dem Goldstandard randomisierte Studie mit aktiver Therapie als Vergleichsarm) und
3. oft sogenannte Surrogat-Endpunkte für klinische Studien gewählt werden.2
Letzteres bezieht sich auf Studien, die nicht direkt einen Einfluss auf das Gesamtüberleben zeigen, sondern deren primäres Ziel darin besteht, den Nachweis einer Verbesserung von richtungsweisenden Parametern wie etwa der Zeit bis zur Tumorprogression oder der Rate an Tumorverkleinerungen zu erbringen. Das höchste Gut in der Etablierung neuer therapeutischer Konzepte muss jedoch weiterhin sein, eine Verlängerung der Lebensdauer sowie eine Verbesserung der Lebensqualität onkologischer PatientInnen zu erreichen: Therapeutische Konzepte, die nicht eines oder beide dieser Kriterien erfüllen, sollten hinsichtlich Toxizität, Risiko-Nutzen-Abwägung und letztlich auch gesundheitsökonomisch besonders kritisch betrachtet werden. Auch aus der Patientenperspektive ist dies ein wichtiger Faktor, da es bei unklarem Nutzen zu übersteigerten Erwartungen mit einhergehender physischer und psychischer Belastung kommen kann. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, hat sich die European Society for Medical Oncology (ESMO) das Ziel gesetzt, ein Bewertungssystem zu entwickeln, mit dem der klinische Nutzen neuer Therapiekonzepte nach objektiven Kriterien eingeordnet werden kann.
Im Jahr 2015 wurde erstmals die ESMO Magnitude of Clinical Benefit Scale (ESMO-MCBS) im hochrangigen Journal Annals of Oncology vorgestellt.3 ESMO-MCBS wurde von einer eigens gegründeten Taskforce aus OnkologInnen und BiostatistikerInnen in einem mehrjährigen Projekt entwickelt. Aufgabe dieser Arbeitsgruppe war es, eine objektive Bewertungsskala zu erarbeiten, mit der man jene Therapien hervorheben kann, welche nicht nur einen (vielleicht marginalen) statistischen Nutzen in klinischen Studien zeigen, sondern die tatsächlich einen klinischen Benefit für den oder die individuelle(n) PatientIn bedeuten. Der Fokus liegt somit auf der Identifizierung von Therapiestrategien, die zu einer Überlebensverlängerung (Overall Survival, OS, Gesamtüberleben) und/oder einer Verbesserung der Lebensqualität (Quality of Life, QOL) führen. Erwähnenswert ist auch, dass die ESMO-MCBS von Beginn an als dynamisches Instrument (Tool) gesehen wurde. Das heißt, es erfolgen regelmäßige Überarbeitungen auf Basis von Feedbacks aus Onkologie und Industrie. Eine erste wichtige Neuerung im Prozess gab es bereits als Reaktion auf die eingangs beschriebenen Veränderungen in der Zulassungslandschaft mit vermehrter Etablierung neuer Therapien auch auf Basis von einarmigen, nicht randomisierten Studien. Die Version ESMO-MCBS V1.1 ermöglicht eine Bewertung von Studien ohne Vergleichsarm, während in der ersten publizierten Version (ESMO-MCBS V1.0) nur randomisierte bzw. kontrollierte Studien bewertbar waren.4
Die aktuelle Version ESMO-MCBS V1.1 ist auf der Webseite der ESMO (www.esmo.org) frei zugänglich und erlaubt im Rahmen von 8 verschiedenen Formularsets die Bewertung neu zugelassener Therapiestrategien.4 So wird zu Beginn der Testung (evtl. Überprüfung) nach dem klinischen Setting (kurativ vs. palliativ, Prognose anhand des Outcomes im Rahmen der bisherigen Standardtherapie), dem primären Endpunkt und dem Studiendesign gefragt, um das entsprechende Formular zu erhalten. In weiterer Folge werden die Ergebnisse der primären Endpunkte einer Studie abgefragt, und zwar anhand einer Kombination aus absolutem und relativem Benefit (absoluter Benefit: Zunahme des medianen progressionsfreien Überlebens oder des Gesamtüberlebens in Monaten; relativer Benefit: unterer Wert des 95%-Konfidenzintervalls der Hazard-Ratio). Diese Daten werden durch Angaben zu Toxizität, Lebensqualität und Langzeitverlauf ergänzt. Nach Eingabe dieser Informationen erfolgt eine Bewertung von 5 bis 1 im palliativen Setting sowie von A bis C im kurativen Setting, wobei 5/4 und A/B als klinisch relevanter Benefit angesehen werden. Therapien, die diese Scores nicht erreichen, müssen kritisch(er) betrachtet werden. Während diese Bewertung somit grundsätzlich von jedem bzw. jeder OnkologIn selbst durchgeführt werden kann, sind mittlerweile alle Zulassungen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) ab Jänner 2016 und alle FDA-Zulassungen ab Jänner 2020 mit entsprechender Bewertung in real time auf der ESMO-Homepage abgebildet (www.esmo.org/guidelines/esmo-mcbs/). Aktuell stehen mehr als 300 Therapien zum direkten Abruf zur Verfügung (Stand 08/2022).
Ein wichtiges Anliegen der ESMO war es auch, mit diesem Tool die Erstattungsprozesse zu unterstützen und somit Ungleichheiten in unterschiedlichen Regionen Europas zu reduzieren. Dieses Bestreben scheint auch zu gelingen, da die ESMO-MCBS-Scores zunehmend auch auf internationaler Ebene in gesundheitsökonomische Entscheidungen miteinbezogen werden. Ein letzter großer Erfolg war, dass die ESMO-MCBS auch für die „WHO Essential Medicine List“ (ein Register therapeutischer Mindestanforderungen für jedes Gesundheitssystem) Beachtung erlangt hat. Auch in Österreich bestand von Anfang an großes Interesse, dieses Projekt zu unterstützen, was unter anderem durch die Beteiligung von Prof. Christoph Zielinski als aktives Gründungsmitglied der MCBS-Gruppe gelungen ist. So wurde bereits kurz nach der Publikation der ersten Version der ESMO-MCBS ein explizites Projekt an der MedUni Wien etabliert, im Rahmen dessen die Anwendbarkeit und der Nutzen des Scores im klinischen Alltag eines tertiären Zentrums untersucht wurden.5, 6 Durch Assessments gängiger Therapien und Feedbackrunden mit behandelnden ExpertInnen konnte der Konsensus gefunden werden, dass die ESMO-MCBS sowohl bei häufigen als auch bei seltenen Tumorentitäten die gängigen Therapien unterstützt und gut abbildet. Auffallend war bereits damals, dass insbesondere immuntherapeutische Konzepte oftmals sehr gut abschneiden, da in zahlreichen Indikationen (z.B. beim Lungenkarzinom) eine Verbesserung des Gesamtüberlebens ohne relevante Toxizitätszunahme erreicht werden kann. Heute stellen die ESMO-MCBS-Scores auch einen Faktor bei Erstattungsfragen im Rahmen des Vienna Cancer Centers dar. Ein „Off label“-Einsatz der ESMO-MCBS kann auch zur Einschätzung des Nutzens von (noch) nicht zugelassenen Therapien im Rahmen von multidisziplinären Tumorboards erfolgen.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die ESMO-MCBS mittlerweile ein gut etabliertes und prominentes Bewertungstool zur Klassifizierung neuer onkologischer Therapien darstellt und breiten nationalen wie internationalen Einsatz findet. Die Entwicklung ist – wenn auch weit fortgeschritten – noch nicht abgeschlossen, da auch in der aktuellen Version noch Diskussionspunkte offen sind und bereits eine weitere, verfeinerte Version in den Startlöchern steht. Außerdem wird demnächst ein eigener Score für die maligne Hämatologie präsentiert werden, um auch hier dem Ziel der Optimierung der individuellen Patientenbetreuung gerecht zu werden.
Barbara Kiesewetter-Wiederkehr
1 Cherny NI. An appraisal of FDA approvals for adult solid tumours in 2017–2021: Has the eagle landed? Nature Reviews Clinical Oncology 2022; 19(7):486–92 2 Gyawali B, Sharma S, Booth CM. Is the number of cancer drug approvals a surrogate for regulatory success? Journal of Cancer Policy 2019; 22:100202 3 Cherny NI, Sullivan R, Dafni U et al., A standardised, generic, validated approach to stratify the magnitude of clinical benefit that can be anticipated from anti-cancer therapies: The European Society for Medical Oncology Magnitude of Clinical Benefit Scale (ESMO-MCBS). Ann Oncol 2015; 26(8):1547–73 4 Cherny NI, Dafni U, Bogaerts J et al., ESMO Magnitude of Clinical Benefit Scale, Version 1.1. Ann Oncol 2017; 28(10):2340–66 5 Kiesewetter B, Raderer M, Steger GG et al., The European Society for Medical Oncology „Magnitude of Clinical Benefit Scale“ in daily practice: a single institution, real-life experience at the Medical University of Vienna. ESMO Open 2016; 1(4):e000066 6 Kiesewetter B, Raderer M, Prager GW et al., The European Society for Medical Oncology „Magnitude of Clinical Benefit Scale“ field-tested in infrequent tumour entities: an extended analysis of its feasibility at the Medical University of Vienna. ESMO Open 2017; 2(3):e000166