Im Screening hatten wir für die Früherkennung des Mammakarzinoms ein opportunistisches Screening, bei dem jene Frauen untersucht wurden, die entweder von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin zugewiesen worden sind oder die selbst an der Früherkennung interessiert waren. Heute werden alle Frauen in Österreich ab 45 Jahren alle zwei Jahre zur Mammografie und bei dichter Brust zur ergänzenden Ultraschalluntersuchung eingeladen. Auch die Früherkennung von Dickdarmkrebs, der dritthäufigsten Krebserkrankung, wird in absehbarer Zeit durch ein organisiertes Screening qualitätsgesichert möglich werden. Und schließlich haben wir mit der HPV-Impfung eine höchst wirksame Impfung gegen HPV-assoziierte Krebserkrankungen eingeführt.
In der Diagnostik gab es bereits die Computertomografie und die Magnetresonanztomografie, beide Techniken haben sich jedoch in der Qualität und Verfügbarkeit massiv weiterentwickelt. Die nuklearmedizinische Bildgebung steckte noch in den Kinderschuhen, vor allem die Option eines fusionierten PET-CT gab es noch nicht. Gerade diese Bildgebung hat einen äußerst hohen Stellenwert in der heutigen Beurteilung des richtigen Stadiums einer Krebserkrankung bekommen.
Die Pathologie hat in diesem Zeitraum eine wahre Revolution erlebt. In der Histologie und der damals gut etablierten Immunhistologie hat die molekulare Analyse zunehmend in fast allen Tumorentitäten einen fixen Platz eingenommen. Zuerst wurden einzelne genetische Veränderungen mit aufwendigen Verfahren untersucht, heute können mehrere Hundert Genloci mit modernen Techniken (z.B. Next Generation Sequencing) in wenigen Tagen analysiert werden. Wir erkennen Risikofaktoren, definieren mit diesen Parametern die Prognose und leiten darauf basierend die risikoadaptierte Behandlung ein.
In der Chirurgie hat der minimalinvasive Zugang die klassischen Operationen verdrängt, Operationsroboter werden zunehmend häufiger eingesetzt und in der Strahlentherapie haben dreidimensionale Planungen die Toxizität reduziert.
Den größten Entwicklungsschub haben wir im therapeutischen Bereich in der medikamentösen Therapie erlebt. Vor 20 Jahren stand die Chemotherapie im Vordergrund, die Dosismaximierung war das eine Ziel, das Nebenwirkungsmanagement das andere. Heute verfolgen wir folgende therapeutische Strategien: 1. Blockade der Wachstumstreiber in Form von Tabletten (Tyrosin-Kinase-Inhibitoren) oder durch monoklonale Antikörper; 2. Aktivierung des Immunsystems durch Blockade „bremsender Faktoren“ (z.B. monoklonale Antikörper gegen PD-1/L1) oder durch direkte Aktivierung der Killerzellen (T-Zellen) (z.B. CAR-T-Zellen). In diese Kategorie fallen auch therapeutische Impfstoffe; 3. Kombinierte Strategien, bei denen Killerzellen mit
Oberflächenproteinen der Krebszellen verbunden werden. Dazu werden ganz besondere neue Antikörper verwendet (bispezifische Antikörper). Zu den kombinierten Strategien gehören auch monoklonale Antikörper, die gezielt Chemotherapie in die Krebszellen einbauen können (Antibody-Drug Conjugates – ADC). Diese Hightech-Entwicklung der Arzneimittel erscheint für die NutzerInnen sehr einfach: Eine Tablette wird eingenommen, eine Infusion wird appliziert.
Diese Innovationen aller onkologisch tätigen Fächer kommen bei den PatientInnen an. PatientInnen mit einem gastrointestinalen Stromatumor hatten vor 20 Jahren eine Lebenserwartung von unter 12 Monaten, heute haben sie mit einer täglichen Tabletteneinnahme eine fast normale Lebenserwartung. Bei einem metastasierten Lungenkarzinom war nach zwei Linien Chemotherapie die Lebensperspektive mit 12 Monaten erreicht, heute können in 30% der Fälle Treibermutationen festgestellt und gezielt therapiert werden, was die Lebenserwartung statt in Monaten in Jahren bemessen lässt. 1995 bis 2020 wurden 145 neue Arzneimittel im Bereich der Onkologie zugelassen, allein 2021 waren es 20. Mehr als 1.300 Arzneimittel zur Behandlung von mehr als 20 Tumorarten befinden sich in Entwicklung. Aktuell baut sich eine Welle an Innovationen auf, die faszinierend ist und die Hoffnung gibt, aber auch die Frage aufwirft, wie es gelingen kann, dieses Wissen zu den PatientInnen zu bringen.
Fortschritt kommt nicht von selbst. Wir brauchen eine Kultur, die sich der Innovation öffnet, wir brauchen ExpertInnen, die den Wert der Innovation einstufen und zu den PatientInnen bringen können, wir brauchen ein Gesundheitssystem, das der Innovation auch den finanziellen Rahmen gibt, der notwendig ist. Österreich gehört zu den Nationen, die diese Innovationen allen PatientInnen zugänglich machen. Das ist ein besonderes Privileg, auf das wir stolz sein können! In diesem 2. Krebsreport werden die verschiedenen Perspektiven der innovativen Entwicklungen in der Onkologie aufgezeigt – viele AutorInnen, Fachgesellschaften und Institutionen haben exzellente Beiträge eingebracht, die Ihnen als LeserIn ein umfassendes Bild vermitteln.
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe
Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie
Univ.-Prof. Dr. Paul Sevelda
Präsident der Österreichischen Krebshilfe