Das Kapitel zur Epidemiologie von Krebserkrankungen beschreibt die Geschichte und den Hintergrund der Krebsregistrierung in Österreich, erklärt die wichtigsten epidemiologischen Kennzahlen und zeigt ausgewählte Daten der Krebsstatistik, die aus dem Österreichischen Nationalen Krebsregister von Statistik Austria erstellt wird. Fachleuten in Medizin und Forschung, Gesundheitspolitik bzw. -verwaltung sowie interessierten Laien wird weiterführend die Publikation „Krebserkrankungen in Österreich“ von Statistik Austria empfohlen. Diese stellt Erkrankungshäufigkeiten und -risiken, Sterblichkeit, Prävalenz und Überlebenswahrscheinlichkeiten für alle Malignome zusammen und für 23 ausgewählte Tumorlokalisationen in kompakter und übersichtlicher Form dar und bietet so die Möglichkeit, sich aus erster Hand über das Krebsgeschehen in der österreichischen Bevölkerung zu informieren.
Durch die Verbesserung der Volksgesundheit und das Zurückdrängen der Infektionskrankheiten im vorigen Jahrhundert wurde Krebs zu einer wesentlichen Todesursache für die Bevölkerung. In der Zeitschrift „Der Krebsarzt“ aus dem Jahr 1957 beschreiben Kretz und Stur die „Krebskrankenstatistik der Österreichischen Krebsgesellschaft“ und bezeichnen die Krebsstatistik bereits als einen etablierten und anerkannten Zweig der Krebsforschung. Sie wiesen darauf hin, dass Daten einzelner Ärzte, Abteilungen oder Krankenhäuser meist zahlenmäßig zu gering sind, um allgemeine Probleme zu erkennen, und jedenfalls eine Auslese darstellen, die möglicherweise das Ergebnis verfälscht. Daher wurden bereits 1932 statistische Erhebungen durchgeführt, die über einzelne Abteilungen und Kliniken hinausreichten. 1957 wurde erstmals versucht, die Erhebungen, die bis dahin für einen Großteil der Wiener Krankenhäuser und in einzelnen Kliniken der Landeshauptstädte durchgeführt wurden, auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen: „Diese Arbeit soll in enger Zusammenarbeit zwischen dem Österreichischen Zentralamt für Statistik, als dem berufenen Träger jeder gesamtösterreichischen statistischen Erhebung, mit dem Sozialministerium, als dem Träger der Gesundheitsverwaltung, und der hieran speziell interessierten Österreichischen Krebsgesellschaft durchgeführt werden.“ Die freiwillige Teilnahme der Krankenhäuser sollte mit einer Vergütung für die ausfertigenden ÄrztInnen von 3,- Schillingen für jedes entsprechend sorgfältig ausgefüllte Krebsmeldeblatt gekoppelt werden. Das Österreichische Nationale Krebsregister hat eine lange Tradition, wie der Artikel von Kretz und Stur (1957) und das Krebsstatistikgesetz aus dem Jahr 1969 zeigen, und eine moderne Ausgestaltung durch die Krebsstatistikverordnung 2019. Die stabile, langjährige Kompetenz der Datensammlung wird durch diese Verordnung auf eine digitale, moderne Basis gestellt. Seit Jänner 2020 werden Krebsregistermeldungen ausschließlich elektronisch, strukturiert und entsprechend den Regeln der Europäischen Datenschutzgrundverordnung von den meldepflichtigen Stellen an Statistik Austria übermittelt. Die Krebsstatistik enthält neben Informationen zur Krebserkrankung auch Angaben zu Alter, Geschlecht und Wohnregion der PatientInnen.
In den vier Bundesländern Vorarlberg, Tirol, Salzburg und Kärnten existieren regionale Tumorregister, die in enger Zusammenarbeit mit den Krankenanstalten die Datensammlung und -aufbereitung im jeweiligen Bundesland durchführen. Als Dienstleister für die Krankenanstalten verwalten diese regionalen Register die Daten der KrebspatientInnen und sorgen für die strukturierte Übermittlung an Statistik Austria. Die Datensammlung in den anderen Bundesländern erfolgt zum Teil ebenfalls über zwischengeschaltete Register wie z.B. das klinische Register des Tumorzentrums Oberösterreich oder das Onkologische Informationssystem (das Arbeits- und Dokumentationstool) der Niederösterreichischen Landesgesundheitsagentur sowie zum Teil über den Krankenhausträger wie z.B. die KAGES für Teile der Steiermark und die KRAGES für Teile des Burgenlands. In Wien stehen der Wiener Gesundheitsverbund und sein IT-Dienstleister, Wien Digital, seinen Krankenanstalten unterstützend zur Seite. Darüber hinaus bestehen, vor allem für jene Krankenanstalten, die in keine der oben beschriebenen Meldesysteme eingebunden sind, nach wie vor direkte Kontakte zu Statistik Austria. Je strukturierter die Datensammlung vor Ort bzw. je höher das Engagement der beteiligten Personen und je intensiver die Nutzung der Daten innerhalb der Krankenanstalt, des Verbunds oder Trägers ist, desto höher ist die Qualität der an Statistik Austria gelieferten Daten.
Die Aufarbeitung der Krebsregistermeldungen sowie Plausibilitäts- und Qualitätskontrollen ist eng an internationale Empfehlungen geknüpft. Internationale Vergleichbarkeit steht bei diesen Empfehlungen der „International Association of Cancer Registries“ (IACR) und des „European Network of Cancer Registries“ (ENCR) im Vordergrund. Im internationalen Vergleich gibt es nur wenige epidemiologische Register, die eine vergleichbare oder noch größere Bevölkerung abdecken als das Österreichische Nationale Krebsregister. Es ist seit langer Zeit Mitglied der IACR und des ENCR. Die Daten des Österreichischen Krebsregisters sind international anerkannt und werden seit dem Diagnosejahr 1997 in der Publikation „Cancer Incidence in Five Continents (CI5)“ der „International Agency for Research on Cancer“ (IARC) veröffentlicht.
Einmal im Jahr wird aus dem Österreichischen Nationalen Krebsregister, das als lebendes Datenbanksystem zu verstehen ist, eine Momentaufnahme fixiert. Der sogenannte authentische Datenbestand bildet die Basis für die Krebsstatistik. Aus diesem Datenbestand werden epidemiologische Kennzahlen wie Krebsinzidenz, Überlebenswahrscheinlichkeiten, Prävalenz und Erkrankungsrisiken berechnet.
Krebsinzidenz: Die Krebsinzidenz bezeichnet die Anzahl an Krebsneuerkrankungen pro Kalenderjahr. Diese Kennzahl kann als absolute Zahl oder als Rate angegeben werden. Altersstandardisierte Inzidenzraten sind um Effekte einer im Zeitverlauf sich ändernden Altersstruktur bzw. unterschiedlichen Alterszusammensetzungen der jeweiligen Bezugsbevölkerungen bereinigt und erlauben somit Vergleiche über Zeiträume und Regionen.
Krebsprävalenz: Als Krebsprävalenz bezeichnet man die Anzahl der Personen (oder den Anteil in einer Bevölkerung), die mit einer vorangegangenen Krebsdiagnose zu einem bestimmten Zeitpunkt am Leben sind. In diese Messgröße fließen alle Krebsdiagnosen ein, unabhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand der Person. Die Daten zur Prävalenz werden auf Basis der Zahlen des Österreichischen Krebsregisters sowie eines Follow-ups des Überlebensstatus aller registrierten Personen berechnet.
Überlebenswahrscheinlichkeit: Die Überlebenswahrscheinlichkeit nach einer Krebsdiagnose wird relativ zum Überleben der Gesamtbevölkerung angegeben. Das relative Überleben setzt das beobachtete Überleben der KrebspatientInnen nach einem bestimmten Zeitraum (kumuliert, z.B. fünf Jahre) in Beziehung zum Überleben der Gesamtbevölkerung unter Berücksichtigung der Alters- und Geschlechtsverteilung. Eine relative Überlebensrate von 100 % bedeutet, dass die Sterblichkeit unter den Erkrankten genauso hoch ist wie die Sterblichkeit der allgemeinen Bevölkerung gleichen Alters und Geschlechts. Das relative Überleben ist somit ein von der Kenntnis der wahren Todesursache unabhängiger Schätzer des krebsspezifischen Überlebens.
Jährlich erkranken in Österreich etwa 42.000 Menschen an Krebs, Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Für beide Geschlechter stellen bösartige Tumorerkrankungen nach den Herz-Kreislauferkrankungen die zweithäufigste Todesursache dar. Brustkrebs bei Frauen und Prostatakrebs bei Männern zählen zu den häufigsten Krebsneuerkrankungen in Österreich. Im Jahr 2018 erhielten 5.565 Frauen die Diagnose Brustkrebs und 6.018 Männer die Diagnose Prostatakrebs. Zusammen mit Lungen- und Darmkrebs sind diese bösartigen Erkrankungen für rund die Hälfte aller Krebsneudiagnosen verantwortlich. Es wurden 4.985 bösartige Tumoren der Lunge und 4.563 bösartige Tumoren des Dickdarms bzw. Enddarms diagnostiziert. Bei Lungenkrebs und Darmkrebs erkranken jeweils mehr Männer als Frauen. Etwa 8 % aller Neudiagnosen betreffen bei beiden Geschlechtern bösartige Erkrankungen des blutbildenden Systems. Dazu zählen vor allem Leukämien und Lymphome, wie das Hodgkin Lymphom und die Non-Hodgkin-Lymphome, aber auch das Plasmozytom bzw. Myelom. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist mit jeweils rund 5 % aller Neuerkrankungen ebenfalls bei Frauen und Männern gleich häufig. Deutliche Unterschiede gibt es bei den bösartigen Erkrankungen der Harnblase, bei Kopf-Hals-Tumoren bzw. bei Schilddrüsenkrebs. Während auf zehn an Blasenkrebs erkrankte Frauen 29 Männer kommen und bei Kopf-Hals-Tumoren 22, sind es bei Schilddrüsenkrebs auf zehn Frauen je fünf Männer.
Das relative 3-Jahresüberleben nahm in den vergangenen Jahrzehnten zu und liegt in der Diagnoseperiode 2013–2017 im Mittel bei rund 65 %. Zu den wichtigsten Faktoren, die das Überleben nach einer Krebsdiagnose beeinflussen, gehören Tumorentität und Tumorstadium bei Diagnose. Das Tumorstadium wird unterschieden nach Vorliegen einer „lokalisierten bzw. regionalisierten Erkrankung“ versus einer „disseminierten Erkrankung“. Wenn sich eine Tumorerkrankung ausschließlich im Ursprungsorgan befindet, spricht man von einer „lokalisierten Erkrankung“. Wenn zusätzlich die regionalen Lymphknoten im Abflussgebiet des Tumors befallen sind, spricht man von einer „regionalisierten Erkrankung“. In beiden Fällen besteht durch eine entsprechende Therapie eine Chance auf Heilung. „Disseminiert“ bedeutet das Vorliegen von Fernmetastasen, d.h., die Tumorerkrankung hat bereits Absiedlungen im Körper gesetzt. Wenn eine disseminierte Erkrankung vorliegt, ist eine Chance auf Heilung bei vielen Tumorerkrankungen gering.
In Abbildung 2 ist für drei Zeiträume das relative 3-Jahresüberleben für vier verschiedene Tumorerkrankungen (Darm, Lunge, Brust und Prostata) in Abhängigkeit vom Tumorstadium („lokalisierte bzw. regionalisierte Erkrankung“ versus „disseminierte Erkrankung“) dargestellt. Bei den lokalisierten/regionalisierten Erkrankungsstadien (orangefarbige Balken) ist das 3-Jahresüberleben für PatientInnen mit Prostatakrebs und Brustkrebs (jeweils über 95 %) deutlich besser als für PatientInnen mit Darmkrebs (etwa 80 %) oder Lungenkrebs (etwa 50 %). Das 3-Jahresüberleben von PatientInnen mit Lungenkrebs ist von unter 40 % auf annähernd 50 % angestiegen, während bei den drei anderen Tumorentitäten nur eine geringe Verbesserung sichtbar ist. Bei PatientInnen mit disseminierter Erkrankung (blaue Balken) ist das 3-Jahresüberleben für jede der vier Tumorerkrankungen deutlich schlechter als bei lokalisierter bzw. regionalisierter Erkrankung. Für Darm-, Lungen- und Prostatakrebs zeigt sich über die drei Zeiträume eine Verbesserung des relativen 3-Jahresüberlebens. Dagegen ist beim Brustkrebs kein Anstieg des Überlebens über die drei Zeiträume zu sehen.
Es ist anzunehmen, dass die in der Abbildung 2 ersichtlichen Verbesserungen über die Zeit vor allem durch verbesserte Behandlungsmöglichkeiten der einzelnen Tumorerkrankungen bedingt sind. Jedoch lässt sich dies nicht belegen, da das Österreichische Nationale Krebsregister nur die Therapieintention bei Diagnosestellung erfasst. Das Ausmaß der Verbesserungen des relativen 3-Jahresüberlebens im Vergleich 2003–2007 versus 2013–2017 ist für viele LeserInnen vermutlich deutlich geringer als gedacht, wenn man beispielsweise an die vielen Berichte zu personalisierter Krebsmedizin denkt. Wenn man die Entwicklung der Tumortherapie objektiv betrachtet, sind die aufgezeigten prozentuellen Verbesserungen jedoch plausibel. Beispielsweise wurden beim metastasierten Darmkrebs („disseminierte Erkrankung“) in dem genannten Zeitraum die Kombinationstherapien von Chemotherapie mit Antikörpern in die Behandlung eingeführt. Der in den Studien gezeigte Nutzen kommt nur den PatientInnen zugute, bei denen Kombinationstherapien aufgrund des Allgemeinzustandes überhaupt möglich sind. Die Daten des Österreichischen Nationalen Krebsregisters inkludieren jedoch auch die PatientInnen, die aufgrund des Allgemeinzustandes nicht die potentiell wirksamste Therapie oder eine rein supportive Therapie ohne tumorspezifische Behandlung erhalten. Insofern bilden diese Daten die Realität der Verbesserung für alle PatientInnen sehr gut ab. Für die PatientInnen, die aufgrund des Allgemeinzustandes alle Möglichkeiten der modernen Onkologie erhalten können, ist der Nutzen sicher größer. Anzumerken ist auch, dass diese Auswertungen noch nicht die neuesten Behandlungsmöglichkeiten der Onkologie abbilden wie beispielsweise die Einführung der Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren bei verschiedenen Tumorerkrankungen.
Die Prävalenz gibt die Zahl aller Personen an, die mit einer vorangegangenen Krebsdiagnose zu einem bestimmten Zeitpunkt am Leben sind. Zum Jahresende 2018 waren dies 366.843 Personen, davon 191.871 Frauen und 174.972 Männer. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind das rund 4 %. Im Zeitraum von 1983 bis 2018 wurden im Österreichischen Krebsregister rund 1,306 Mio. Krebsneuerkrankungen bei rund 1,212 Mio. Personen mit Hauptwohnsitz in Österreich verzeichnet. Viele dieser Personen, die noch am Leben sind, gelten als geheilt bzw. leben mit Krebs. Um den Fokus auf die akut betroffenen Personen zu legen, ist in Abbildung 3 nur die Anzahl der Personen dargestellt, deren Krebserkrankung in den fünf Jahren vor dem jeweils Jahresletzten diagnostiziert wurde.
In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen von rund 39.000 auf über 42.000, und die Überlebenswahrscheinlichkeit nahm zu. Dementsprechend stieg auch die Krebsprävalenz seit Jahren kontinuierlich an. Diese Zunahme ist vor allem dadurch bedingt, dass es absolut gesehen in Folge der demografischen Alterung sowie steigender Lebenserwartung der Bevölkerung immer mehr Personen in höherem Lebensalter gibt und die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, mit steigendem Lebensalter zunimmt. Auch verstärktes Screening sowie verbesserte Diagnosemethoden tragen dazu bei, viele Krebserkrankungen vermehrt und frühzeitiger zu erkennen und erhöhen somit die Zahl der registrierten Neuerkrankungen.
Das Risiko, im Laufe seines Lebens eine Krebserkrankung zu erleiden, nimmt mit dem Alter deutlich zu (Abbildung 4, grüne Säule). Fast 35 % der Menschen, also jeder dritte Mensch, erleiden im Laufe ihres Lebens eine Krebserkrankung. Während das Risiko für Brustkrebs ab den jungen Lebensjahren eher linear zunimmt, kommt es beim Prostatakrebs ab dem 60. Lebensjahr zu einem sprunghaften Anstieg. Auch Darmkrebs und bösartige Blutkrebserkrankungen nehmen mit dem Alter verstärkt zu. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens mit der Diagnose Darmkrebs, Lungenkrebs oder einer Blutkrebserkrankung konfrontiert zu werden, beträgt für jede dieser Erkrankungen weniger als 5 %. Die epidemiologischen Daten haben nicht nur Implikationen für das erforderliche medizinische Leistungsangebot in den Spitälern, sondern dienen auch als Berechnungsgrundlage für das erforderliche medizinische Leistungsangebot bis hin zur Tumornachsorge.
Es ist wichtig festzuhalten, dass Krebs auch im jüngeren Lebensalter nicht selten ist: 2,5 %, d.h. jeder 40. Mensch im Alter unter 45 Jahren, ist von einer Krebserkrankung betroffen – anders ausgedrückt sind das 61 von 100.000 Personen dieser Altersgruppe. Per Definition gilt eine Krankheit als „seltene Erkrankung“, wenn weniger als 6 von 100.000 Personen davon betroffen sind. Jeder neunte Mensch erhält bis zum 60. Lebensjahr, also in der Zeit der Berufstätigkeit, die Diagnose Krebs. Absolut gesehen sind durchschnittlich je Jahr in Österreich knapp unter 3.000 Menschen bis zum 45. bzw. knapp unter 12.000 bis zum 60. Lebensjahr von der Diagnose Krebs betroffen. Diese Daten sind u.a. für die Gestaltung eines optimalen supportiven Angebotes, z.B. onkologische Rehabilitation und Berufswiedereingliederung, wichtig.
Monika Hackl, Karin Eglau,
Armin Gerger, Ansgar Weltermann